Ein Film als musikalische Zeitreise (2024)

Schon vor dem Kinostart (23. September 2022 in der Türkei, 29. September 2022 in Deutschland) ist der Film „Liebe, D-Mark und Tod – Aşk, Mark ve Ölüm“ vielfach gelobt und auf der Berlinale ausgezeichnet worden. Der 1976 im fränkischen Schweinfurt geborene Regisseur Cem Kaya spricht im Interview über die Musikkultur türkischer Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, eigene Erinnerungen und erste Publiku*msreaktionen.

Herr Kaya, Sie haben mit „Liebe, D-Mark und Tod – Aşk, Mark ve Ölüm“ einen Film-Essay über die türkische Musikkultur in Deutschland gedreht. Wie wurden Sie selbst von dieser Kultur geprägt?

Türkische Musik war immer um mich. Ich bin wie viele andere Nachkommen der Gastarbeitergeneration mit ihr aufgewachsen. Beschallung gab's dauernd – abends mit der Radiosendung „Köln Radyosu“ und der türkischsprachigen Sendung „Türkiye Mektubu“ im deutschen Fernsehen, auf den vielen Hochzeiten und natürlich durch die Filme. Bis Ende der 1980er-Jahre gab's ja in Deutschland einen Boom mit Filmen auf VHS-Kassetten. In den Filmen wurde viel gesungen, auch gab es in Deutschland sogar eigene Labels für türkische Musik.

Im Film selbst und auch in vielen Rezensionen wird thematisiert, dass die deutsche Öffentlichkeit die Musikkultur einer nicht unerheblichen Bevölkerungsgruppe ignoriert hat, dabei hatte diese eigene Orte zum Feiern und Stars, die große Säle füllten. Holen Sie also etwas Versäumtes nach?

Das war mit Sicherheit nicht meine Motivation. Mich interessiert die türkische Popkultur. Ich habe schon zuvor Dokumentarfilme gedreht wie etwa „Arabesk – Vom Gossensound zum Massenpop“ über das Phänomen Arabesk-Musik und „Remake, Remix, Rip-Off“, ein Film über türkische Remakes von Hollywood-Filmen. Übrigens war die Musikkultur der Arbeitsmigrant*innen in Deutschland auch in der Türkei recht unbekannt. Ich habe kein Sendungsbewusstsein nach dem Motto „Schaut jetzt mal, was ihr so alles verpasst und versäumt habt“. Primär wollte ich eine Geschichte erzählen, und zwar die Geschichte der Musikkultur der Gastarbeiter*innen und ihrer Nachkommen. Besungen wird in den Liedern das Heimweh, die schwere Arbeit, später in den Hip-Hop-Stücken fehlende Akzeptanz und Anerkennung. Weil die Musik den Alltag abbildete und wiederum die Liedtexte nicht ohne Kontext zum Lebensgefühl der Entstehungszeit sind, ist der Film auch ein Dokument der Zeitgeschichte. Er erzählt bundesrepublikanische Geschichte aus einer anderen Perspektive.

Was hat es mit dem Titel auf sich?

Der Titel des Filmes stammt von einem gleichnamigen Gedicht des Schriftstellers Aras Ören, das er 1982 für die NDW-Band Ideal auf Türkisch geschrieben hatte. Ideal vertonten es dann auf ihrem Album „Bi Nuu“ in phonetischem Türkisch. Wir mochten das Lied und den Text des Gedichtes. Es fasst sehr verdichtet die Themen unseres Filmes zusammen.

Wie ist denn die Idee zum Film entstanden?

Das hängt unter anderem mit „Songs of Gastarbeiter“ zusammen, einer Musik-Sammlung, die Imran Ayata und Bülent Kullukcu 2013 herausbrachten. Diese Compilation hat uns Nachkommen, die ja mit dieser Musik großgeworden sind, sie wieder in Erinnerung gerufen und uns auch Künstler*innen nähergebracht, die wir nicht kannten. In den darauffolgenden Jahren erschienen in deutschen Medien etliche Beiträge zur Musik der türkischen Gastarbeiter*innen, meist mit dem Blick von außen. Es gab zudem einige, die – wie ich – mit dieser Musik sozialisiert waren und einen Film darüber machen wollten.

Am Ende haben Sie den Film gedreht und dafür den Zuschauerpreis auf der Berlinale erhalten...

Ja! Und danach auch den Publiku*mspreis auf dem Dokufest in Prizren. Der Film scheint etwas getroffen zu haben, das viele generationsübergreifend und international anspricht. Wichtig ist mir zu erwähnen: Ich habe Regie geführt, an dem Film aber nicht alleine gearbeitet, sondern mit meinen Co-Autoren Mehmet Akif Büyükatalay und Uf*ck Cam. Alles in allem hat es fünf Jahre gedauert, bis der Film fertig war. Für die Finanzierung unseres Projekts haben wir bei TV-Sendern angeklopft und arte, rbb und den WDR als Kooperationspartner gewonnen. So konnten wir auch in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Anstalten stöbern. Die Recherchearbeit war intensiv: Wir haben mit Kameraleuten gesprochen, die auf Hochzeiten gefilmt haben, und in deren Archiven rumgewühlt, dann auch Menschen direkt angesprochen und über sie weitere Kontakte geknüpft, um an Privatarchive zu gelangen. Das Schwierigste war, die Rechte an den Bildern zu klären. Als der Film fertig war, haben wir für Freunde, Bekannte und auch Fremde in Berlin ein Test-Screening gemacht. Die Zuschauer mochten den Film.

Wie erklären Sie sich, dass der Film so gut ankommt?

Der Film berührt die Menschen, trifft sie mitten ins Herz. Er schafft es, unterschiedliche Gefühle gleichzeitig zu wecken – wie etwa tiefe Trauer und Freude. Und was über den Film, der auch eine Zeitreise ist, auch gelingt: Er verbindet Generationen.

Apropos Generationen: Sie sind 1976 als Sohn türkischer Arbeitsmigranten in Schweinfurt geboren und gehören somit der zweiten Migrantengeneration an, die meist als Deutsch-Türken bezeichnet werden. Ist das eine Definition, mit der Sie sich identifizieren können?

Ich kann mit solchen Zuschreibungen nicht viel anfangen, sie spiegeln nicht meine Identität wieder. Ich bin ein Amalgam aus vielem. Migrantenkind und Arbeiterkind gleichzeitig zu sein, das hat mich geprägt. Was und wer ich bin – das lebe ich mit Selbstverständlichkeit.

© www.deutschland.de

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